Junge Welt – Rainer Werning – Zukünftige Vergangenheit

07.05.2016 / Thema / Seite 12

Am Montag wird in den Philippinen gewählt. Gut ­möglich, dass der Marcos-Clan bald ­wieder die Macht ausüben wird. Derweil drohen die Auseinandersetzungen im Süden des Landes wieder zu eskalieren

 

Von Rainer Werning, Manila

Am kommenden Montag finden in den Philippinen allgemeine Wahlen statt. Etwa 55 Millionen wahlberechtigte Filipinos entscheiden dann auch, wer als ihr 16. Präsident in den Malacañang-Palast in Manila einzieht. Persönliche Schlammschlachten prägten einen Wahlkampf, in dem drei Jahrzehnte nach dem Sturz der Marcos-Diktatur ausgerechnet nostalgische Sehnsucht nach dem einstigen Staatsoberhaupt von dessen Familienclan geweckt wird.

Der Norden der Philippinen, vor allem die beiden Provinzen Ilocos Norte und Ilocos Sur, schwelgt in der Hochphase des Wahlkampfs in Erinnerungen. Man gedenkt des größten »apo« (»obersten Herrn« oder »Boss«), den die Region in der jüngeren Geschichte jemals hervorgebracht hat: des 1917 in Sarrat geborenen und 1989 im Exil auf Hawaii verstorbenen Ferdinand E. Marcos. Als handele es sich um seine Reinkarnation lächelt nunmehr der 58jährige Marcos junior, landesweit als »Bongbong« bekannt, von Myriaden Postern, Konterfeis und Wahlzetteln seiner Fangemeinde zu.

Marcos, Marcos über alles

Laoag City, die etwa 110.000 Einwohner zählende Hauptstadt von Ilocos Norte, beherbergt in ihrem Stadtzentrum das Museo Ilocos Norte. Dieses ausladende, zwischenzeitlich restaurierte Backsteingebäude aus dem 19. Jahrhundert diente der spanischen Kolonialmacht, namentlich der im November 1881 gegründeten spanischen Compañia General de Tabacos de Filipinas – besser unter dem Namen Tabacalera bekannt – als Lagerhaus. Die Ilocanos nennen das Museo kurz »Gameng«, was »Schatz« heißt. Gemeint sind damit all jene Schätze, die sowohl die Natur zu bieten hat als auch die im Laufe ethnographischer Feldforschungen zusammengetragenen und hier präsentierten Artefakte. Die Ilocos-Region, auch Ilocandia genannt, ist eine schmale Tiefebene. Im Osten grenzt sie an die Gebirgsketten der Cordillera, im Westen bildet das Südchinesische Meer mit seinen zahlreichen malerischen Stränden die natürliche Grenze. Landknappheit und Bevölkerungsdruck hatten Ilocanos bereits vor Beginn der US-amerikanischen Kolonialherrschaft (1898–1946) dazu bewogen, ihr Glück im zentralen und südlichen Teil des Landes zu suchen. Ab 1906 migrierten Ilocanos als erste Filipinos dann auch in stetig wachsender Zahl in die USA, vor allem nach Hawaii.

Der letzte Raum des Museo Ilocos Norte ist üblicherweise zeitgenössischen Ausstellungen gewidmet, wo auch Souvenirs feilgeboten werden. Im Frühjahr 2016 ist zur Verblüffung des Besuchers ein Ereignis zum Thema gemacht worden, das reichlich 50 Jahre zurückliegt – die am 30. Dezember 1965 gehaltene Antrittsrede des frisch gekürten zehnten Präsidenten der Philippinen, Ferdinand E. Marcos. Vergilbte Poster und Fotos zieren den Raum, in dem in großen Lettern das Leitmotiv jener Rede prangt: »Wir werden wieder eine große Nation sein«.

Die Etappen seines Aufstiegs sind minutiös festgehalten im knapp 20 Kilometer südlich von Laoag City gelegenen Marcos-Museum in Batac. Dieses ist Teil eines Gebäudekomplexes, in dem zuvor Eltern des bis 1986 regierenden Präsidenten residierten und wo sich heute zu bestimmten Anlässen der Familienclan trifft. Das zweigeschossige, in spanischem Stil erbaute Haus aus Holz und Backstein zeichnet die Lebensschritte des »Apo« in extrem verklärender Weise nach.

Surreale Welten

Für die Ausstellungsmacher lassen bereits die Schuljahre von Ferdinand Edralin Marcos und erst recht seine Studienzeit als angehender Jurist keinen Zweifel daran, dass in dem Manne Großes schlummerte. Zeugnisse, frühe Ehrungen, Zeitungsausschnitte, in denen Marcos jeweils als Primus gewürdigt ist, Autoschilder jener Limousinen, die der aufstrebende Politiker nutzte, leiten über zur Phase gewachsener politischer Macht. Ausgeschmückt ist die Liebe auf den ersten Blick, die sich zwischen dem ehrgeizigen Politiker und seiner künftigen Gemahlin, Imelda Romuáldez, entwickelte. Imelda war einst Schönheitskönigin in der zentralphilippinischen Provinz Leyte, wo man sie als »Rose von Tacloban« kannte.

Just in den Raum, wo das präsidiale Paar auf großen Fotos ge- und verehrt wird, stürmt eine Schulklasse kreischend herein. Die Lehrerin mahnt zur Ruhe, die Schüler verstummen. Ich frage sie, ob dieser Besuch Teil des Unterrichts ist. »Ja, natürlich«, erwidert sie prompt, »die Kleinen müssen doch auch ihre Geschichte lernen. Erst recht, wenn es sich dabei auch noch um einen bedeutenden Ilocano handelt.« Die Darstellung der Präsidentschaftszeit von Marcos, von 1965 bis zu seinem Sturz im Februar 1986, trägt verherrlichende Züge. Er wird durch eine Fülle präsentierter Devotionalien zum Supermann: visionärer Staatslenker, Erbauer von Straßen, Brücken, Luxushotels, einem Internationalen Konferenzzentrum, einem Herz- und Lungenzentrum und so weiter. Alles gemeinsam mit der First Lady, die in Personalunion als diplomatische Sonderemissärin des Präsidenten, Siedlungsministerin und Gouverneurin der Region Metro Manila fungierte.

Die Einmaligkeit des Präsidentenpaars wird mythisch überhöht auf Gemälden, wo das Paar einem Urnebel entsteigt. Implizit ein Bezug zu einer der landesweit beliebten Schöpfungsgeschichten, wonach ein Vogel auf Wasser gleitende Bambusrohre aufpickt, denen dann der erste Mann und die erste Frau entsteigen: er »Malakas« (der Starke), sie »Maganda« (die Schöne). Das Bild des Starken und der Schönen lässt sich heute mühelos auf die Marcos-Kinder übertragen: Ferdinand »Bongbong« Marcos jun. schickt sich als Noch-Senator an, am 9. Mai Vizepräsident zu werden. Die Chancen dafür stehen gut; in den letzten Meinungsumfragen führt er vor den anderen Bewerbern. »Bongbong« möchte nach sechsjähriger Amtszeit noch einmal eben so lange im Malacañang-Palast weilen – dann aber als Präsident, versteht sich. Die Marcos-Tochter Imee residiert bereits seit 2010 als Gouverneurin von Ilocos Norte im nahegelegenen Laoag. Die Mutter Imelda vertritt seit der Zeit auch den zweiten Wahlkreis der Provinz.

Der Aspirant auf das Amt des Vizepräsidenten versteht sich prächtig mit Rodrigo Duterte, dem ebenfalls in den Meinungsumfragen führenden Präsidentschaftsanwärter und Bürgermeister der südlichen Stadt Davao. Der nämlich hat angekündigt, Marcos senior das von dessen Clan und seinen zahlreichen Freunden sehnlichst erwartete Staatszeremoniell mit anschließender letzter Ruhestätte auf Manilas Heldenfriedhof zu ermöglichen. Da die Regierungen in Manila dies bislang verweigerten, bleibt der »Apo« einstweilen noch im Mausoleum direkt neben dem Marcos-Museum aufbewahrt. Unter der gläsernen Abdeckung des Sarges scheint der Einbalsamierte wie auf einem seitlich blau angestrahlten Wasserbett in der Luft zu schweben.

»Wir sind im Klassenkampf«

Von Ilocos in den Moloch Manila. Auf dem Weg zur Padre Faura Street im alten Stadtbezirk Ermita ringt der Taxifahrer verbissen um jeden Zentimeter. Völlig genervt und lautstark holt er das Letzte aus der krächzenden Hupe heraus. Schließlich ziehe ich es vor, mich zu Fuß zum Solidaridad Book Shop aufzumachen. Seit einem halben Jahrhundert residiert dort der mittlerweile 91jährige Francisco Sionil José, von seinen vielen Bekannten und FreundIen kurz Frankie genannt. Zahlreich sind die nationalen und internationalen Ehrungen, die Frankie als bekanntester zeitgenössischer Schriftsteller des Landes erhalten hat. Im Frühjahr 1971 traf ich ihn das erste Mal im Solidaridad – schon damals eine feine Adresse für ein literarisch und politisch interessiertes Publikum.

»Das ist doch ein getreues Spiegelbild unserer Gesellschaft«, sagt Frankie gleich zu Beginn, nachdem ich ihm kurz geschildert hatte, wie mühselig mittlerweile der Weg zu seinem Laden geworden ist. »Diese City stagniert, Müll allerorten. Wenn ich daran denke, wie die anderen Megacities Seoul, Taipeh, Singapur oder Bangkok sich seit den 1950er Jahren entwickelten! Unseren politischen Eliten mangelt es an Visionen und Durchsetzungskraft. Schon wieder neigt sich die Regierungszeit eines Präsidenten dem Ende zu, der viel heiße Luft geblasen und als Haciendero wenig vorzuweisen hat«, erklärt der große alte Mann mit sarkastischem Unterton. Mit Haciendero meint er Präsident Benigno S. Aquino III., einen Spross des mächtigen Großgrundbesitzerclans Cojuangco-Aquino, den er vor sechs Jahren bewusst nicht gewählt hatte: »Warum? Der Mann hatte während seiner Amtszeit als Kongressabgeordneter und Senator nichts vorzuweisen. Als seine Mutter, die allseits geschätzte ›Cory‹ (Corazon C. Aquino beerbte Marcos und war Präsidentin von 1986 bis 1992, R. W.) im Sommer 2009 starb, profitierte der Sohn von ihrer Aura und von der Berühmtheit seines Vaters, des im August 1983 erschossenen Exsenators und Marcos-Rivalen.«

»Aquinos ›daang matuwid‹ (›Politik der Geradlinigkeit‹, R. W.) und das zu Beginn seiner Amtszeit an die Wähler gerichtete ›Ihr seid mein Boss‹ waren rhetorische Figuren und blieben Floskeln. Sein Kampf gegen die Korruption war einzig gegen politische Kontrahenten gerichtet. Streckenweise regierte er ausschließlich mit Vertrauten aus gemeinsamen Studentenverbindungen und protegierte völlig unfähige Personen«, erklärt Frankie, um sodann des Präsidenten »Wirtschaftserfolge« anzusprechen: »Selbst hier, ganz in der Nähe, im Schatten der glitzernden Shopping Malls, wirst du nachts zig Familien sehen, die auf den Straßen campieren oder tagsüber betteln und nach Essbarem im Müll herumstochern. Was hat sich für sie und die Masse unserer Bevölkerung in all den Jahrzehnten geändert?«

Frankies Büro ziert eine ungewöhnliche, da umgedrehte Landesflagge. Die Querbalken sind vertauscht, der rote oben, der blaue unten. Was in der Geschichte bedeutete, dass sich das Land im Krieg befand. »Ja, natürlich«, sagt er, »wir sind im Klassenkampf – mittendrin. Wäre ich jung, kämpfte ich in der Guerilla. Unser tiefes Dilemma ist, dass die Eliten zu amerikahörig sind und die radikale Linke zu chinahörig war. Wir müssen uns dafür einsetzen, eigene Werte und Vorstellungen zu entwickeln, die dem gemeinschaftlichen Wohl und würdevollem Leben dienen. In gewissem Sinne ist Dutertes Machismo eine Revolte der Peripherie gegen das imperiale Zentrum Manila.«

Verfolgt, geschunden, vergewaltigt

Die Länge unseres Gesprächs und der Verkehr hinderten mich an der Teilnahme an einer Demo, zu der mich just an diesem 8. März, dem Internationalen Frauentag, Organisatoren von »Carmma« eingeladen hatten. Die Abkürzung steht für »Campaign Against the Return of the Marcoses to Malacañang«, die am 4. Februar 2016 in Erinnerung an den Sturz des verhassten Despoten vor 30 Jahren lanciert wurde. Gegründet wurde sie von früheren Folteropfern und Hinterbliebenen politischer Aktivisten, die von Schergen des Marcos-Regimes ermordet worden waren oder »verschwanden«.

Eine der Betroffenen, Marie Hilao-Enriquez, langjährige Vorsitzende der rührigen Menschenrechtsorganisation Karapatan, erklärt mir nach meinem Besuch bei Frankie: »Wir sind in all jenen Jahren verfolgt, geschunden, vergewaltigt und anderweitig gedemütigt worden. Die Staatskasse wurde geplündert, etwas, was Marcos‘ Nachfolger als verruchtes Erbe übernahmen. Dennoch kämpften wir gegen Marcos und werden das auch heute tun, da sich sein Sohn Bongbong anschickt, Vizepräsident zu werden.« »Während der Herrschaft seines Vaters«, so die agile Aktivistin, »verdoppelte sich die Zahl der unterhalb der Armutsgrenze lebenden Menschen von 18 Millionen im Jahre 1965 auf 35 Millionen im Frühjahr 1986. Bei Marcos‘ Amtsantritt betrug die Auslandsverschuldung gerade mal umgerechnet zwei Milliarden US-Dollar. Als er stürzte, war unsere Verschuldung gegenüber dem Ausland auf annähernd 30 Milliarden Dollar angewachsen. Und heute stellt sich sein Sohn hin und verklärt jene Jahre als ›goldene Ära der Filipinos‹. Er spekuliert darauf, dass die Alten vergessen und die Jüngeren nichts wissen – alles im Namen von ›nationaler Einheit und Geschlossenheit‹.«

Unruhiger Süden

Bevor der Riesenvogel der Cebu Pacific Air zur Mittagszeit zum Landeanflug auf Cotabato City ansetzt, zeigen sich weite Teile der Insel Mindanao wie von einem hellbraunen Teppich überspannt. Auswirkungen von El Niño, einer seit November letzten Jahres anhaltenden Dürre, die Mensch und Tier immer mehr zu schaffen macht. Proteste aufgebrachter Bauern und Indigener, die Ende März in der nahegelegenen Stadt Kidapawan von der Lokal- und Regionalregierung Lebensmittelhilfen forderten, wurden gewaltsam aufgelöst. Drei Demonstranten starben, als Polizisten, statt Reissäcke an Hungernde zu verteilen, am 1. April plötzlich Schüsse in die Menge abfeuerten. Über hundert weitere Menschen wurden verletzt, 43 Demonstranten festgenommen, während einige Dutzend noch immer vermisst werden.

Nachmittags treffe ich meinen langjährigen Freund Daniel »Danny« Ong. Danny, von Haus aus Politikwissenschaftler, kam 1960 in Nuling (heute Sultan Kudarat), unweit von Cotabato gelegen, zur Welt. Seit Jahrzehnten ist er in verschiedenen in- wie ausländischen NGO engagiert. Als Organisator, Researcher und erfahrener Politfuchs mit vielfältigen Kontakten zu Personen aus Politik, Wirtschaft und den Kirchen ist er mit der Situation auf Mindanao bestens vertraut. Er hat die Wirren des Krieges ebenso miterlebt wie die euphorische Aufbruchstimmung der letzten Jahre.

»Die hiesige Zivilgesellschaft hat sich sehr engagiert für den Friedensprozess und sich nach Kräften für ein erfolgreiches Verhandlungsende mit der Islamischen Befreiungsfront der Moros, der MILF, eingesetzt«, erklärt mir Danny in einem ersten ausführlichen Gespräch. Und er fügt hinzu: »Nie zuvor ist eine ebenso breite wie intensive Zusammenarbeit geleistet und allerorten Aufklärung betrieben worden, wie das im Vorfeld des zwischen der Regierung in Manila und der MILF am 27. März 2014 ausgehandelten Friedensvertrages der Fall war. Entsprechend hochgeschraubt waren die Erwartungen, dass nun endlich ein Durchbruch erzielt werden könnte.«

Doch dazu kam es nicht. Einer der Hauptgründe für das Scheitern dieses ambitionierten Ziels, dem man zumindest mit der Verabschiedung des Bangsamoro-Gundgesetzes (BBL) für die zu errichtende gleichnamige autonome Region ein großes Stück hätte näherkommen können, war der »Blutsonntag« des 25. Januar 2015. An jenem Tag endete eine Kommandoaktion von Spezialeinheiten der Polizei in dem Ort Mamasapano (Provinz Maguindanao) in einem Fiasko, annähernd 70 Menschen starben. Der Hauptverantwortliche, Präsident Aquino, weist bis heute hartnäckig jede Anschuldigung zurück. Halt eine »b-lame duck«, wie Kommentatoren in Manila spötteln. Der Präsident sei nicht nur eine »lahme Ente«, sondern gleichzeitig auch jemand, der stets auf andere zeigt und diese für selbstverschuldete Übel verantwortlich macht.

Konflikte im »Gelobten Land«

Mindanao ist Schauplatz des längsten Konflikts in Südostasien. Die Auseinandersetzungen dort sind höchst komplex und brisant. Streit um Land- und Bodenbesitz, Klassenantagonismen, religiöse und (inter-)ethnische Konflikte, schroffe Stadt-Land-Gegensätze, endemische Armut und Gewalt, anhaltende Rido, also mitunter äußerst brutal ausgefochtene Familien- bzw. Clanfehden, Widerstand gegen Großgrundbesitzer und (internationale) Minengesellschaften, die vor allem auf Kosten der Lumad, der indigenen Völker, Profit machen wollen. Es sind dies die Nachwirkungen einer Verkettung von externem Kolonialismus und etappenweiser interner Kolonisierung.

Die spanische Kolonialherrschaft über die Inseln währte annähernd 350 Jahre, ohne aber den vorwiegend muslimischen Süden jemals kontrolliert zu haben. Das änderte sich während der US-amerikanischen Kolonialära (1898–1946), als der von den Moros, der muslimischen Bevölkerung, und den vorwiegend animistischen Lumad bewohnte und vielfach gemeinschaftlich bewirtschaftete Grund und Boden sukzessive usurpiert wurde. Gezielte Ansiedlungen aus den nördlichen und zentralen Landesteilen des Archipels taten ein Übriges, den Siedlern aus diesen Gebieten wurde Mindanao als »gelobtes Land« (»land of promise«) schmackhaft gemacht. Widerspenstige Rebellen aus dem Norden, die dort mit Waffengewalt gegen Großgrundbesitzer gekämpft hatten, wurden mit dem Versprechen geködert, kostenlos Land auf Mindanao zu erhalten, wenn sie sich im Gegenzug verpflichteten, die Gewehre zu strecken. Die Konsequenz: Die demographischen Verhältnisse veränderten sich einschneidend. Moros und Lumad wurden zunehmend marginalisiert.

Bewaffneter Widerstand seitens der Moros flammte nach der Jahrhundertwende erneut Ende der 1960er Jahre auf. Es entstand mit der National Liberation Front (MNLF) eine Organisation, die ursprünglich für einen eigenen Staat – die unabhängige Republik Bangsamoro – eintrat. Nach Jahren erbitterten Bürgerkrieges, der seitdem etwa 150.000 Menschenleben forderte, besiegelte die MNLF in zwei 1976 und 1996 unterzeichneten Verträgen ihren Frieden mit Manila. Das wiederum hatte ehemalige MNLF-Kader bewogen, aus Protest gegen »Verrat und Kapitulation« mit der neugeschaffenen MILF am Konzept eines eigenen Staates festzuhalten

Die aktuelle Stimmung, resümiert Danny, schwankt allerorten zwischen Entrüstung, Wut, tiefer Frustration und gedämpftem Optimismus. Der Wahlkampf habe überdies gespalten und Zynismus geschürt. Egal, wer auch immer ab Juli die Geschicke des Landes in den nächsten sechs Jahren lenkt, es ist längst nicht ausgemacht, ob der Sieger dem fortgesetzten Dialog mit den Moros und der Friedensagenda im Süden höchste Priorität einräumt. Selbst die vom Hoffnungsträger Mindanaos, Davaos Bürgermeister Rodrigo Duterte, propagierte Schaffung eines föderalen Systems erforderte die Einsetzung einer verfassunggebenden Versammlung und ein aufwendiges juristisches Prozedere, was bestenfalls drei Jahre dauert. Das jedenfalls ist die Meinung von Datu Michael Mastura, der in den frühen 1970er Jahren selbst Mitglied einer solchen Versammlung war und Cotabato als Kongressabgeordneter vertrat. Der angesehene Jurist, Historiker und in theologischen Fragen versierte Mastura, der einem Sultansgeschlecht entstammt, hat lange im Verhandlungsteam der MILF als Berater mitgewirkt. Mir gegenüber erklärt er unumwunden: »Das Bangsamoro-Gundgesetz (BBL) ist ein Stück Papier, das längst die Toilette hinuntergespült worden ist.«

Verloren in Verhandlungen

Die MILF-Führung ist in der misslichen Lage, seit 1997 zig aufreibende Gespräche und Verhandlungen über einen Waffenstillstand und sodann über ein Friedensabkommen ohne vorzeigbares Ergebnis geführt zu haben. Dabei kann die Regierungsseite noch froh sein, mit einer MILF-Führungsriege unter Leitung von Al Haj Murad Ebrahim, Ghazali Jaafar, dem Ersten Vizevorsitzenden und Verantwortlichen für politische Angelegenheiten, und Mohagher Iqbal als Chefunterhändler zusammengesessen zu haben. Diese hat ein erstaunliches Maß an Contenance gewahrt und selbst bei Demütigungen durch die gegnerische Seite mehr Souveränität als diese bewiesen. Das hat schlicht damit zu tun, dass die MILF-Führung von Leuten gestellt wird, die ihre aktive Kombattantenzeit längst hinter sich haben. Die meisten führenden Kader sind Endsechziger, die der Gedanke umtreibt, wenigstens ein Vermächtnis des Friedens zu hinterlassen, wenn schon nicht ihr einst maximalistisches Ziel eines unabhängigen Staates durch langwierigen bewaffneten Kampf realisiert werden konnte.

In jeweils zweistündigen Interviews, dich ich mit Iqbal und Jaafar geführt habe, scheint dies immer wieder durch. Gefragt, warum die MILF nach dem Mamasapano-Fiasko, bei dem annähernd 70 Menschen starben, nicht offensiv die flagrante Verletzung von Abmachungen seitens der Regierung kritisiert habe, erklärt Iqbal: »Was hätte das zu dem Zeitpunkt genützt? Wir wollten unsererseits das Endstadium der Verhandlungen nicht gefährden. Zudem drängte Frau Deles (Teresita Quintos-Deles ist die Beraterin von Präsident Aquino in Fragen des Friedensprozesses, R. W.) darauf, den Präsidenten nicht zu kompromittieren.« Ist man da rückblickend nicht eingeknickt – mit der Konsequenz, Widerspruch inner- wie außerhalb der eigenen Reihen zu provozieren, möchte ich von Jaafar wissen: »Das kann ich nicht ausschließen«, antwortet der untersetzte Vizevorsitzende und fügt hinzu, »wir haben im Namen des gesamten Zentralkomitees der MILF Mitte Februar eine Erklärung veröffentlicht, in der wir aus unserer bitteren Enttäuschung über das Scheitern des BBL keinen Hehl machen. Doch gleichzeitig hat Vorsitzender Ebrahim erklärt, dass die MILF auch nach Präsident Aquinos Amtszeit den Friedensprozess fortzusetzen gedenkt.«

Sammy P. Maulana, Generalsekretär des Consortium of Bangsamoro Civil Society, der größten Dachorganisation von NGO in Mindanao, bemüht einen einprägsamen Vergleich: »Vor allem Iqbal ist mit einem Dilemma konfrontiert. Er sitzt, bildlich gesprochen, in einer von der Regierung gestellten Limousine. Doch anstatt Gas zu geben, um schnell ans Ziel zu kommen, musste er erkennen, dass man sich auf einer abschüssigen Bahn befindet, wo es nur noch gilt, die Bremse zu bedienen oder gar mit angezogener Handbremse zu holpern.« Malik Z. (Name von der Redaktion geändert), der schon lange Zeit als Journalist über den Friedensprozess in regionalen und nationalen Zeitungen berichtet, ist desillusioniert: »Nicht nur die MILF-Führung ist in einem Dilemma. Auch zahlreiche NGO sitzen in der Klemme. Da ist seitens der umtriebigen Frau Quintos-Deles mit viel Geld Berufsoptimismus verbreitet worden. Jetzt schaut man erst einmal in die Röhre. Zwischenzeitlich positionieren sich die Gegner. Die Zeichen stehen wieder auf Sturm.«

Rainer Werning, promovierter Sozialwissenschaftler und Publizist mit dem Schwerpunkt Südost- und Ostasien, ist u. a. Koherausgeber des mittlerweile in 5. Auflage im Horlemann-Verlag (Angermünde) erschienenen »Handbuch Philippinen«. Auf diesen Seiten schrieb er zuletzt am 22. Februar 2016 über den Marcos-Sturz vor 30 Jahren.

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