Sonny Africa im Gespräch mit Rainer Werning: „Seit jeher fördern wir ein Verständnis von Wirtschaft und Gesellschaft aus der Perspektive der einfachen Menschen“(*)

Bild von IBON/Juni 2021: Sonny Africa

Der philippinische Ökonom Sonny Africa über die grassierende Armut in seinem Land, die weltweit wohl härtesten und längsten Lockdowns infolge der Covid-19-Pandemie und über rabiatem Antikommunismus einer Politikerkaste, die sich mehr um Macht und Pfründe als um ein Krisenmanagement kümmert.

Jose Enrique A. („Sonny“) Africa (52) ist geschäftsführender Direktor der IBON Foundation, einer unabhängigen Nichtregierungsorganisation, die seit 1978 Forschung, Information und Bildungsdienstleistungen für Volksbewegungen in den Philippinen und im Ausland leistet. Er ist auch Vorstandsmitglied von Altermidya, ein Fellow des Center for People Empowerment in Governance (CenPEG) und des Center for Anti-Imperialist Studies (CAIS) sowie Redakteur des Online-Nachrichtenmagazins Bulatlat. Zuvor arbeitete er als Mitarbeiter der staatlichen National Economic and Development Authority (NEDA) und Berater von Bauernorganisationen und linken Kongressabgeordneten.

Africa ist zudem Autor zahlreicher Schriften zu sozioökonomischen und politischen Themen, die auch im Ausland veröffentlicht wurden – u.a. vom Asia-Pacific Research Network, dem African Network for Debt and Development und von Transparency International. Er war Hauptautor von Studien über Armutsprobleme und den Gesundheitssektor in den Philippinen sowie einer im Auftrag von UNICEF erstellten Studie über Kinder, Frauen und bewaffnete Konflikte in dem südostasiatischen Land.

Von Haus aus Ökonom, erwarb Africa seinen Bachelor-Abschluss (BSc) in Philosophie und Wirtschaft sowie seinen Master-Abschluss (MSc) in Development Studies an der London School of Economics and Political Science (LSE).

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Was verbirgt sich hinter dem Wort IBON? Wie und wann wurde diese Organisation ins Leben gerufen?

IBON wurde 1978 in Manila während der Marcos-Diktatur gegründet. „IBON“ ist ein Tagalog-Wort und bedeutet „Vogel“, der bekanntlich Frieden, Freiheit und Unabhängigkeit symbolisiert.

Uns ging es von Anfang an unter anderem um Freiheit von Unterdrückung und Unabhängigkeit von fremden Mächten, von denen man sich befreien will. Der Vogel spielt zudem als Symbol im Christentum eine große Rolle, so dass es nicht verwundert, dass kirchliche Mitarbeiter in unserem vorwiegend römisch-katholisch geprägten Land zu den Gründern von IBON zählten, dessen Schriftzug immer noch klobig daherkommt und konventionell in Großbuchstaben geschrieben wird.

Was haben Sie beruflich gemacht, bevor Sie zu IBON stießen und deren Geschäftsführer wurden?

Ich war in unterschiedlichen Bereichen der Entwicklungsarbeit tätig, seit ich nach meinem Universitätsabschluss zu arbeiten begann. Mein erster Job war in der Nationalen Planungsbehörde der Philippinen, wo ich mich hauptsächlich mit der Abwicklung von staatlichen Krediten der Weltbank und der Asiatischen Entwicklungsbank befasste. Danach verbrachte ich viele Jahre in einer Nichtregierungsorganisation (NGO), die landesweit mit anderen NGOs und Volksorganisationen im Bereich von Gemeindeentwicklungen vernetzt war.

Das langjährige Engagement in Basisgemeinschaften und vor allem die Teilnahme an organisierten Kampagnen und Kämpfen der Menschen hinterließen bei mir einen starken Eindruck und prägten in besonderem Maße meinen weiteren Werdegang. Danach verbrachte ich einige Jahre als legislativer Mitarbeiter der progressiven Parteilistengruppe Bayan Muna im Parlament. Das Internet fing gerade an, in großem Umfang genutzt zu werden, und so half ich dabei, eine Online-Nachrichten-Website einzurichten – übrigens die erste landesweit. Es folgten Jahre, in denen ich mitwirkte, Bauern zu organisieren, um das Gleichgewicht der Macht auf dem Lande zu kippen. Im Jahr 2005 kam ich in die Forschungsabteilung von IBON und wurde schließlich zu deren Geschäftsführer ernannt.

Was sind im Moment die Hauptaktivitäten von IBON?

Bei IBON ging es von Anfang an darum, ein Verständnis von Wirtschaft und Gesellschaft aus der Sicht und Perspektive der einfachen Menschen zu fördern. Das umfasst nach wie vor den Löwenanteil unseres Engagements, und wir kooperieren hier sehr eng mit den größten und wichtigsten fortschrittlichen politischen Kräften im Land. Wir hätten nicht so lange durchgehalten und wären nicht so bedeutsam, wenn wir nicht in den organisierten Kämpfen der Bauern und Fischer, der Arbeiter und Beschäftigten des informellen Sektors, der Jugend und Studenten, der Frauen, der indigenen Völker und anderer progressiver Sozialreformer verankert wären. Wir tragen mit Forschung und Analysen zu ihren Kampagnen bei und geben Schulungen und Trainings. Wir setzen uns auch dafür ein, dass fortschrittliche Ideen so viele Menschen wie möglich erreichen, und zwar über Massenmedien, soziale Medien und eine partielle Zusammenarbeit mit der Regierung.

Ein weniger bekannter Teil unserer Arbeit umfasst die Bildungsarbeit in formalen Schulen, im informellen Sektor und in Massenbewegungen. Wir produzieren Lehrbücher, Zeitschriften, Hintergrundmaterial und ergänzende Unterrichtsmaterialien für Grund- und weiterführende Schulen. Wir helfen auch bei der Entwicklung von Lehrplänen selbstorganisierter Gemeindeschulen der indigenen Lumad im südlichen Landesteil.

Nach philippinischen Medienberichten werden Sie als Person und IBON als pro-kommunistisch gebrandmarkt? Was genau wird Ihnen vorgeworfen und von wem?

Die Duterte-Regierung versucht seit Anfang 2019, die Glaubwürdigkeit von IBON zu untergraben. Das begann damit, dass das Präsidialamt selbst unsere Daten und Analysen in Frage stellte. Sodann wurde uns vorgeworfen, wir unterstützten und finanzierten „Terrorismus“, ein Vorwurf, der in der weiterreichen Anschuldigung gipfelte, wir seien Teil eines „kommunistisch-terroristischen“ Komplotts, um die Regierung mit bewaffneten Mitteln zu stürzen. Wiederholt wurden unsere Mitarbeiter von Militär- und Polizeiagenten schikaniert. Unsere Büros werden überwacht und wären fast von Sicherheitskräften gestürmt worden.

Als aktivste Verleumder von IBON gerierten sich die beiden Sprecher der Nationalen Task Force zur Beendigung des lokalen kommunistischen Konflikts (NTF-ELCAC), der Chef des Militärkommandos Süd-Luzon, Generalleutnant Antonio Parlade Jr. (er befindet sich mittlerweile im Ruhestand – Anm. RW), sowie Unterstaatssekretärin Lorraine Badoy vom Präsidialen Kommunikations- und Koordinationsbüro (PCCO). Ihre Anschuldigungen werden ebenso pflichtbewusst wie begierig von Duterte-Trollen, kriecherischen Bürokraten und der Propagandamaschinerie der Regierung aufgegriffen.

Was zeichnet Ihrer Meinung nach die gegenwärtige Regierung im Vergleich zu ihren Vorgängern in besonderer Weise aus?

Die Duterte-Regierung zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass ihr oberster Repräsentant ein Musterbeispiel für den Autoritarismus des frühen 21. Jahrhunderts ist. Wie viele Autokraten heute ist Präsident Duterte ein populistischer Demagoge, der seine Macht durch Wahlen erlangt hat und diese durch eine immer aggressivere Herrschaft und Munitionierung des Gesetzes ausbaut. Die Art und Weise, wie er und andere die sogenannten liberal-demokratischen Institutionen, die seit den 1980er Jahren weltweit gefördert werden, so leicht ausnutzten und dann untergruben, entlarvt eher deren Unzulänglichkeiten als Mittel für Menschen zu sein, ihr eigenes Leben zu kontrollieren.

Wie beurteilen Sie die politische, wirtschaftliche und soziale Leistung während Dutertes Amtszeit, die ja nun reichlich fünf Jahre währt?

Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rückschläge in nur fünf Jahren der Duterte-Regierung sind enorm.

Die Theatralik des Präsidenten beinhaltet eine Menge anti-oligarchischer, reformistischer und sogar nationalistischer Rhetorik, aber seine Regierung ist tatsächlich zutiefst neoliberaler Politik verpflichtet. Das Ergebnis ist entsprechend triste – der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Wirtschaft ist so gering wie in den 1950er Jahren und die Landwirtschaft ist auf den niedrigsten Stand in der Geschichte des Landes gesunken. Die Arbeitslosigkeit war schon vor der Pandemie auf einem Rekordhoch.

Dutertes aggressiv pro-großunternehmerische Agenda hat die Ungleichheit durch Unternehmensgewinne auf Kosten der einfachen Lohnarbeiter vertieft. Die neoliberale Besessenheit von fiskalischer Sparsamkeit bedeutet inzwischen, dass lebenswichtige Gesundheits-, Bildungs- und andere öffentliche Dienstleistungen äußerst spärlich für die überwiegend arme und verletzliche Bevölkerung bereitgestellt werden. Das miserable COVID-19-Krisenmanagement der Regierung hat alle diese Tendenzen nur noch verschlimmert.

Dutertenomics (Dutertes Wirtschaftspolitik – Anm. RW) ist in ihrem Kern eine Kombination aus gewohnter neoliberaler Politik und harschem populistischen Autoritarismus. Dies hat dazu geführt, dass der enorme Ressourcenreichtum und die Autorität des Staates einzig genutzt werden, um die Profite und Interessen der großen Konzerne, einschließlich ausländischer Investoren, zu erhöhen. Einkommen und Vermögen werden steil und systematisch zugunsten ausländischer und inländischer kapitalistischer Eliten umverteilt.

Politisch gesehen sind die Angriffe des Staates auf die Masse der Bevölkerung gegenwärtig an Breite, Tiefe und Härte beispiellos – zumindest seit der offenen Diktatur während des Kriegsrechts (unter dem früheren Präsidenten Ferdinand E. Marcos, das offiziell von 1972 bis 1981 währte – Anm. RW). Vermeintliche oder tatsächliche politische Gegner nicht nur in den Massenbewegungen, sondern auch in der Legislative, der Judikative, den Massenmedien, den Kirchen und der Privatwirtschaft werden frontal – notfalls gewaltsam – attackiert. Wie in anderen Ländern werden auch hier zunehmend drakonische Anti-Terror- und andere Sicherheitsgesetze und -vorschriften in Anschlag gebracht.

Die unmittelbaren Auswirkungen sind Bedrohungen für Einzelpersonen und Organisationen. Sozialer Aktivismus, Entwicklungsarbeit in den Gemeinden und die politische Interessenvertretung werden empfindlich gestört und behindert.

Es besteht aber auch langfristig die große Gefahr, dass sich die Machtverhältnisse zugunsten des Staates verschieben. Der Sperrklinkeneffekt zahlreicher gesetzlicher Einschränkungen ist langanhaltend und wird schwer rückgängig zu machen sein. Diese werden auch nach dem Ausscheiden von Präsident Duterte aus dem Amt gravierende Auswirkungen haben.

Können Sie einige Eckdaten zur aktuellen Einkommensverteilung, zu den Profiten der größten Unternehmen im Lande und zur Diskrepanz zwischen gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlöhnen und tatsächlich gezahlten Löhnen nennen?

Mit 109,5 Millionen Filipinos sind die Philippinen das weltweit dreizehntgrößte von etwa 200 Ländern. Das bedeutet, dass die dem Kapitalismus innewohnende Ungleichheit ohnehin eine große Anzahl ausgebeuteter Menschen betrifft.

Es gibt etwa 24,8 Millionen philippinische Haushalte mit durchschnittlich jeweils 4,4 Personen. Die ärmsten 17,8 Millionen Familien verfügen über keinerlei Ersparnisse, während etwa sieben Millionen Haushalte zwar über Bankguthaben verfügen, die im Median allerdings gerade mal 5.300 Peso (umgerechnet etwa 111 US-Dollar) ausmachen. Die ärmsten 1,3 Millionen Familien sind chronisch verschuldet. Auf der anderen Seite besitzen die 40 reichsten philippinischen Familien laut Forbes Magazine jeweils ein Nettovermögen zwischen zehn und 900 Milliarden Peso (210 Millionen bis 19 Milliarden US-Dollar). Allein die 50 reichsten Filipinos verfügen über ein geschätztes Nettovermögen in Höhe von 4,1 Billionen Peso (86 Milliarden US-Dollar), eine Summe, die dasjenige der ärmsten 70 Millionen Filipinos zusammen entspricht.

Die ärmsten 11,3 Millionen Familien (46 Prozent aller Familien) haben ein monatliches Einkommen von höchstens 22.000 Peso (460 US-Dollar) im Vergleich zu den reichsten 143.000 Familien (den obersten 0,6 Prozent), die über ein monatliches Einkommen ab zehn Millionen Peso (210.000 US-Dollar) beziehungsweise weit darüber hinaus verfügen. Selbst dies verschleiert jedoch, wie tief die Armut für die Ärmsten tatsächlich ist – die Hälfte der Bevölkerung verdient weniger als 22.000 Peso monatlich und die ärmsten 12 Prozent (2,9 Millionen Familien) kämpfen mit 11.000 Peso (230 US-Dollar) oder noch weniger ums nackte Überleben.

Diese Zahlen messen jedoch nur die Einkommensarmut. Zur Situation der überwältigenden Mehrheit der Filipinos gehören außerdem aber auch das Fehlen angemessener Arbeitsplätze, mangelnde Bildung, schlechte Gesundheitsversorgung und miserable Wohnverhältnisse mit chronischer struktureller Gewalt, Verletzlichkeit und Ausbeutung. Die National Capital Region (NCR) oder das Ballungszentrum rund um die Metropole Manila beherbergt 13 der am stärksten verstopften Städte der Welt, und die Hälfte der Familien quetscht sich dort in Häuser, die gerade mal die Größe von knapp zweieinhalb Parkplätzen aufweisen.

Eines der Merkmale der halbfeudalen Rückständigkeit der Philippinen ist der riesige informelle Sektor, in dem etwa drei Viertel (72 Prozent) in fragmentierten und verstreuten landwirtschaftlichen und Dienstleistungsaktivitäten tätig sind. Diese Informalität bedeutet, dass sie weit jenseits von Mindestlohngesetzen und -regelungen existiert. Allerdings ist die staatlich geförderte Lohnausbeutung in den kapitalistischen Unternehmen stark ausgeprägt.

Die Arbeitsproduktivität wächst ständig, da neue Technologien eingesetzt werden und die Arbeiter angehalten sind, immer mehr Mehrwert für die Kapitalisten zu produzieren. Dennoch ist der vorgeschriebene Mindestlohn in der NCR in Höhe von aktuell 537 Peso (11,50 US-Dollar), der höchste im Land, real zwischen 2006 und 2020 um nur 3,4 Prozent gestiegen. Dies ist einer der Faktoren, der die Profite der landesweit Top-1000-Unternehmen im gleichen Zeitraum von 599 Mrd. Peso auf über 1,5 Billionen Pesos indes um 143 Prozent ansteigen ließ. Die rund 280 Firmen, die an der philippinischen Börse (PSE) gelistet sind, schnitten sogar noch besser ab – ihre Profite verdreifachten sich im selben Zeitraum von 253 auf 769 Mrd. Peso. Nach den neuesten offiziellen Erhebungen und Berichten erhält knapp die Hälfte (46 Prozent) der Lohn- und Gehaltsempfänger weniger als den Mindestlohn und ein Viertel (25 Prozent) erhält genau den Mindestlohn, der aber ohnehin für einen angemessenen Lebensunterhalt viel zu niedrig bemessen ist.

Die Unternehmensgewinne werden noch kräftiger steigen, da die Duterte-Regierung die Pandemie benutzt, um Unternehmenssteuern weiter zu senken, weil ansonsten zu viele Firmen in der Wirtschaftskrise kollabierten. Allein im laufenden Jahr werden sich solche Gewinne um 133 Mrd. Peso (2,8 Mrd. US-Dollar) erhöhen, von denen der überwiegende Teil an die größten Firmen des Landes und an ausländische Investoren fließt.

Es scheint, dass es in Ihrem Land verschiedene Statistikbehörden gibt. Wie erklären Sie sich das und wie sind deren jeweilige Daten zu bewerten?

Die Regierung hat kürzlich ihre tatsächlich bestehenden verschiedenen statistischen Agenturen unter einer philippinischen Statistikbehörde (PSA) konsolidiert. Die PSA ist nunmehr für die Erstellung der makroökonomischen, volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, die Durchführung aller Volkszählungen und Umfragen, sektorale Statistiken und gemeindebasierte Statistiken sowie die Konsolidierung ausgewählter Verwaltungsunterlagen zuständig. Die PSA ist relativ fortschrittlich in dem Sinne, dass es einen großen Bestand an Statistiken über philippinische Sozial- und Wirtschaftsindikatoren gibt, über die andere Länder in der Region zum Beispiel nicht verfügen oder diese nicht so häufig publizieren.

Die Regierung ist eine wichtige Datenquelle, allein schon aufgrund der Tatsache, dass sie die einzige Instanz ist, die über die Ressourcen und die Autorität verfügt, nationale und lokale Daten zu generieren. Die Datenerhebung ist extrem teuer, und außerdem sind viele Datenquellen, wie z.B. Unternehmen, nicht sehr auskunftsfreudig, es sei denn, sie sind dazu gezwungen, entsprechende Daten herauszugeben.

Das größte Problem des philippinischen Statistiksystems ist die Auswahl der zu überwachenden Variablen. Viele wesentliche Dinge werden nicht häufig genug (wie z.B. Armut nicht nur in Bezug auf das Einkommen, sondern in ihren vielen Dimensionen oder mit Blick auf tatsächlich ausgezahlte Löhne) oder überhaupt nicht überwacht (wie z.B. das Vermögen von Haushalten oder Familien). Dann muss IBON Schätzungen vornehmen, die es aus mehreren Quellen zu extrapolieren gilt. Die Statistiken sind nach konventionellen Parametern eng gefasst: Die wirtschaftliche Produktion wird gemessen, nicht aber der damit einhergehende ökologische Ressourcenverbrauch. Die Investitionsstatistik unterscheidet kaum zwischen ausländischem und inländischem Kapital, die Außenhandelsstatistik gibt nicht an, ob die importierende/exportierende Einheit ausländisch oder inländisch ist, und so weiter.

All dies unterstreicht den ideologischen Charakter der Daten- und Informationserhebung. Dies weist auch auf die Notwendigkeit hin, kritisch mit den vorliegenden Daten umzugehen, nach alternativen Datenquellen zu suchen und darauf zu achten, dass nicht versehentlich wichtige Aspekte von Phänomenen ignoriert werden, nur weil es dazu keine leicht zugänglichen Daten gibt.

Welche Kriterien verwendet die Regierung derzeit, um beispielsweise Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und Armut zu bestimmen?

Die Regierung verwendet eine absurd niedrige Definition dessen, was es bedeutet, arm oder nicht arm zu sein. Die offiziellen Armutsgrenzen werden auf regionaler Basis berechnet (es gibt 17 Verwaltungsregionen) und reichen von 63 Peso (1,20 US-Dollar) bis 79 Peso pro Tag (1,50 US-Dollar) mit einem landesweiten Durchschnitt von täglich 71 Peso (1,34 US-Dollar). Mithin konstatiert die Regierung, der durchschnittliche Filipino benötige täglich nur 71 Peso, um seinen gesamten Bedarf an Nahrungsmitteln und anderen Gütern zu decken und nicht mehr arm zu sein. Gemäß diesem Kriterium zählt die Regierung lediglich 16,6 Prozent oder 17,6 Millionen Menschen der Gesamtbevölkerung beziehungsweise nur 12,1 Prozent der Familien oder drei Millionen Familien als „arm“. Mit dieser statistischen Trickserei wird behauptet, die Armut im Lande nehme ab.

Eine Person gilt inzwischen als arbeitslos, wenn sie zwar zur Erwerbsbevölkerung zählt, aber derzeit nicht arbeitet. Man gehört zu den Erwerbspersonen, wenn man mindestens 15 Jahre alt und erwerbstätig ist (d.h. wenn man ein Einkommen in Form von Geld oder Sachbezügen anstrebt; Vollzeitstudenten, Hausfrauen, Rentner und ähnliche Personen sind mithin ausgeschlossen). Als beschäftigt gilt bereits jede/r, der/die in der vergangenen Woche auch nur eine Stunde gearbeitet hat! Unterbeschäftigte sind jene, die mehr Arbeitsstunden, einen zusätzlichen Job oder einen neuen Arbeitsplatz mit mehr Arbeitsstunden wünschen.

Diese Definitionen beinhalten eine Reihe von Implikationen, die dazu auffordern, die offiziellen Zahlen sehr kritisch zu beäugen. Erstens ist die Definition von Beschäftigung tatsächlich so vage, dass große Teile unregelmäßiger, unsicherer, miserabel bezahlter und minderwertiger Jobs, die kaum zum bloßen Lebensunterhalt reichen, als Arbeit gezählt werden. Das bläht die „Beschäftigung“ auf und reduziert die Arbeitslosigkeit.

Zweitens hat die Regierung die Definition von Arbeitslosigkeit seit 2005 noch verschärft, indem sie nunmehr verlangt, dass ein Arbeitsloser in den letzten sechs Monaten Arbeit gesucht haben muss und in der Lage ist, sofort eine Arbeit anzunehmen. Dies hat zur Folge, dass die Zahl der offiziell als arbeitslos gemeldeten Personen erheblich sinkt, da Millionen tatsächlich arbeitsloser Filipinos nicht als arbeitslos gelten, sondern aus der Erwerbsbevölkerung herausfallen. Wir schätzen, dass sich dadurch die offizielle Arbeitslosigkeit nahezu halbiert und die Arbeitslosenquote um drei bis vier Prozent reduziert wird. Die Regierung hat diese geänderte Definition benutzt, um eine Verbesserung der Beschäftigungssituation vorzutäuschen und die verheerenden Auswirkungen des Neoliberalismus auf die heimische Wirtschaft zu verschleiern.

Bezüglich des bisherigen Kurses der Regierung in Manila, die Covid 19-Pandemie effektiv zu bekämpfen, kommen zahlreiche internationale und regionale Wirtschafts- und Forschungsinstitute zu dem Schluss, dass die Philippinen das Schlusslicht in der gesamten asiatisch-pazifischen Region bilden. Was sind Ihrer Meinung nach die Faktoren, die für diese Misere verantwortlich sind?

Die Knausrigkeit der philippinischen Regierung in Bezug auf COVID-19 spiegelt nur wider, wie gründlich der Staat seine Rolle verinnerlicht hat, die Interessen des Kapitals über die der arbeitenden Klassen zu stellen. Er gibt nicht das aus, was für die Eindämmung von COVID-19, für Gesundheitsmaßnahmen, für die Unterstützung notleidender Familien und Kleinunternehmen und anderes ausgegeben werden müsste. Das liegt daran, dass sie trotz des schweren Schocks durch die Pandemie und die Abriegelung nicht will, dass das nationale Staatsdefizit steigt und die Verschuldung zunimmt, um ihre Kreditwürdigkeit (Investment Grade) zu erhalten.

Bei der so genannten Kreditwürdigkeit geht es vor allem darum, die von ausländischen und inländischen Kapitalisten gewünschten stabilen Finanzströme zu gewährleisten. Diese Stabilität gewinnt besondere Bedeutung wegen der 1,1 Billionen Peso (23 Mrd. US-Dollar) an Infrastrukturausgaben, auf die sie 2021 noch besteht – mit weiteren Billionen Peso in den kommenden Jahren. Der Kapitalfluss zur Finanzierung dieser Projekte muss sichergestellt werden. An vielen dieser Infrastrukturprojekte sind ausländische Auftragnehmer beteiligt, sie werden US-amerikanische, japanische, chinesische und europäische Zulieferer stimulieren und großen transnationalen Konzernen im Lande zugutekommen. Es wäre etwas anderes, wenn es sich um arbeitsintensive Projekte handeln würde, die Arbeit für Filipinos schaffen und eine Infrastruktur aufbauen, welche die heimische Wirtschaft dringend benötigt.

Die Regierung gibt auch nicht das aus, was sie ausgeben müsste, um den fiskalischen Spielraum zu haben, die Steuersenkungen auf Unternehmenseinkommen zu unterstützen. Die Senkung der Körperschaftssteuer in Höhe von 133 Mrd. Peso bedeutet buchstäblich 133 Mrd. Peso (2,8 Mrd. US-Dollar) weniger für eine effektive Bekämpfung von COVID-19.

Außerdem hat die Regierung die Unterstützung für notleidende Familien ihrerseits als einen gnädigen Akt von Nächstenliebe dargestellt. Anstatt die Verantwortung für das Wohlergehen derjenigen zu übernehmen, die am stärksten von der Pandemie und den rücksichtslosen Abriegelungen betroffen sind, versucht die Regierung, die Krankheit einzig mit Lockdowns einzudämmen. Hinzu kommt die fatale Vorstellung der Neoliberalen, monetäre Maßnahmen wie die Erhöhung der Liquidität seien die effektivsten Instrumente zur Steuerung der Wirtschaft.

Wie kann die Wirtschaft wieder angekurbelt werden, nachdem das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2020 um fast zehn Prozent geschrumpft ist?

Die unmittelbare Herausforderung besteht natürlich darin, die Wirtschaft von dem extremen Einbruch im vergangenen Jahr, der bis heute anhält, wieder zu beleben. Die Rekordzahl von hungernden, armen und arbeitslosen Filipinos seit dem Frühjahr 2020 hat sich nicht verringert. Die Erholung wird am besten dadurch vorangetrieben, dass man den ärmsten 70-80 Prozent der Filipinos eine substanzielle Bargeld-Nothilfe zukommen lässt. Dies wird sowohl ihre Situation lindern – was um ihrer selbst willen wertvoll ist, da sie bereits all die Monate gelitten haben – als auch die wirtschaftliche Aktivität auf breiterer Ebene ankurbeln.

Die Steigerung der Gesamtnachfrage wird umso umfangreicher sein, je größer der fiskalische Stimulus ist. Die philippinische Wirtschaft ist zu etwa 70 Prozent konsumorientiert (der Rest entfällt auf Investitionen, Regierung und Nettoexporte). Die langen und harten Lockdowns haben vor allem den Konsum zum Erliegen gebracht, so dass dieser Aspekt der Wirtschaft große Aufmerksamkeit benötigt. Umso mehr, als ein Zusammenbruch des Konsums auch und gerade einen Zusammenbruch des ohnehin schon niedrigen Niveaus des Wohlstands der Haushalte bedeutet.

Über die bloße Wiederbelebung oder Erholung hinaus besteht jedoch die Herausforderung, strukturelle und langfristige Reformen einzuleiten. Die halbfeudale philippinische Wirtschaft vor der Pandemie war rückständig, nicht industrialisiert, von Ausländern und Eliten dominiert, von Armut geprägt und ungleich. Dies ist keineswegs die Art von „Normalität“, zu der wir zurückkehren sollten.

(*) Dieser Text ist die Original- bzw. Langfassung eines Beitrags, dessen Kurzversion als deutsche Erstveröffentlichung am 21./22. August 2021 unter dem Titel “Dutertes Regierung ist neoliberaler Politik zutiefst verpflichtet“ (https://www.jungewelt.de/artikel/408839.philippinen-dutertes-regierung-ist-neoliberaler-politik-zutiefst-verpflichtet.html) in der Wochenendbeilage (S. 1/2) der in Berlin erscheinenden Tageszeitung junge Welt erschien.