Unabhängigkeit als Inszenierung

Vor 111 Jahren wurden die Philippinen

US-amerikanische Kolonie

 Von Rainer Werning

 Am 12. Juni 1898 wurde in den Philippinen die Republik ausgerufen – ein Fanal des Freiheitskampfes in der Region. Doch ihre Unabhängigkeit erlangten die Inseln von den (nach Spanien) neuen US-Kolonialherren erst am 4. Juli 1946. Der 12. Juni 1998, so sah es die Regie der seinerzeit eigens geschaffenen National Centennial Commission unter dem Vorsitz des damaligen Ex-Vizepräsidenten Salvador H. Laurel vor, sollte den Höhepunkt der Feierlichkeiten im Gedenken an den 100. Jahrestag der Proklamation der Unabhängigkeit der Philippinen bilden. Doch was eigentlich gab und gibt es zu feiern? In jenen Sommertagen der Jahrhundertfeiern gab bereits die philippinische Kolumnistin Marites Danguilan Vitug eine Antwort, die allerdings im offiziell verordneten Jubelchor unterging: „100 Jahre Unabhängigkeit? Nein. 100 Jahre Freiheit und Demokratie? Mitnichten. Wir begehen lediglich den 100. Geburtstag der Unabhängigkeitserklärung”, so die Journalistin, „der Bildung einer kurzlebigen Republik im Jahre 1898, bevor sich die Amerikaner der Inseln bemächtigten und 50 Jahre lang unsere Geschicke und Geschichte bestimmten.”

 

 

Kommodore Dewey ante portas

1896 kam es zu ersten militärischen Auseinandersetzungen zwischen dem für Unabhängigkeit eintretenden Geheimbund rebellischer Filipinos, der Katipunan, und Truppen der seit 1571 auf den Inseln nistenden Kolonialmacht Spanien. Andres Bonifacio, einer der Mitbegründer der Katipunan und als Bodegero (Lagerhalterarbeiter) ein Vertreter der Unterschicht, wurde aus der Führung der Bewegung verdrängt, die schrittweise in die Hände der Ilustrados, der Gebildeten, überging. Als deren Führer empfahl sich nach der Erschießung Bonifacios mit Emilio Aguinaldo ein Spross aus der Grundbesitzerklasse. Am 1. November 1897 wurde eine provisorische Verfassung durch die Aufständischen verabschiedet. Doch Aguinaldo ließ sich unter dem Einfluss reicher Filipinos auf Verhandlungen mit Primo de Rivera, dem spanischen Generalgouverneur, ein. Als Ergebnis dieser Verhandlungen stimmte Aguinaldo letztlich zu, die Kämpfe zu beenden und ins Ausland zu gehen. Der Preis dafür waren Reformversprechen seitens des ohnehin morschen Kolonialapparates und die Aussicht auf 800.000 Mexikanische Dollar. Aguinaldo hielt seinen Teil der Übereinkunft ein und begab sich ins Exil nach Hongkong. Von den 800.000 Mexikanischen Dollar aber wurden ihm lediglich 400.000 ausbezahlt, von den Reformversprechen indes wurde keines eingehalten.

 

Bevor es zu diesem denkwürdigen Abkommen zwischen der Katipunan-Führung und dem spanischen Generalgouverneur im Dezember 1897 kam, hatte ein Tross um Aguinaldo, darunter bis noch vor kurzem eingefleischte Bewunderer der spanischen Krone, Kontakte zu einer anderen Seite aufgenommen. Ihr Auslandsagent Felipe Agoncillo hatte sich bereits mehrfach mit dem US-amerikanischen Konsul in Hongkong, Rounseville Wildman, getroffen und diesem eine Allianz angeboten. Zwei philippinische Provinzen und die Zolleinnahmen bot er im Gegenzug zu Waffenlieferungen, ein Deal, auf den einzugehen Wildman allerdings von seiner Regierung untersagt wurde.

 

Am 30. November war Kommodore George Dewey als Nachfolger des Befehlshabers des Asiatic Squadron auf Betreiben des damaligen Assistant Secretary of the Navy, Theodore Roosevelt, nach Fernost beordert worden. Nachdem er die Leitung der Flotte in Yokohama übernommen hatte, traf er Mitte Februar 1898 in Hongkong ein. Es kam zur Kontaktaufnahme und schließlich zu Gesprächen zwischen Aguinaldo und einem Gesandten Deweys, der den Supremo drängte, in seine Heimat zurückzukehren und den Kampf wieder aufzunehmen. Die Gespräche wurden jedoch abgebrochen, weil der Spanisch-Amerikanische Krieg ausgebrochen und Dewey nach Manila abkommandiert worden war. Aguinaldo verließ Hongkong und tauchte wenig später in Singapur auf, um dort in Verhandlungen mit US-Generalkonsul Pratt zu treten. Pratt, der sich Aguinaldos Hilfe versichern wollte, gab diesem seinerseits das Wort, „dass die Vereinigten Staaten mindestens die Unabhängigkeit der Philippinen unter dem Schutz der US-Marine beachten werden“. Aguinaldo kehrte sodann unverzüglich nach Hongkong zurück, von wo aus er Mitte Mai 1898 auf Deweys Geheiß von einem US-Kriegsschiff nach Manila gebracht wurde.

 

Dort hatte sich inzwischen einiges getan. Für die US-Navy war der Feldzug gegen die Spanier ein militärischer Spaziergang. Von acht spanischen Kriegsschiffen in der Manila-Bucht waren nur fünf einsatzbereit. Das Gefecht begann am 1. Mai und endete am 1. Mai. Die spanischen Truppen hatten 381 Tote und Verwundete zu beklagen, die US-Marine nicht einen einzigen. Kommodore Dewey, daraufhin zum Admiral befördert, ging jedoch nicht mit seinen Truppen sogleich an Land, sondern verhängte eine Blockade über die Manila-Bucht und telegrafierte seinen Oberen im fernen Washington, dass er Manila jederzeit einnehmen könnte. Die Blockade der Manila-Bucht bedeutete, dass sämtliche Schiffe neutraler Nationen, in diesem Falle auch des Deutschen Kaiserreiches (das außer in China präsent zu sein erst später im Nord- und Südpazifik Flagge zeigen sollte), passieren durften.

 

Wohlwollende Assimilierung” …

Die Regierung der Vereinigten Staaten war sich lange Zeit unschlüssig, wie sie mit den Philippinen verfahren sollte. Der erste Entwurf eines Vorschlags für Friedensbedingungen seitens Washingtons erwähnte lediglich Manila; der Rest der Inseln sollte bei Spanien verbleiben. Außenminister Day bevorzugte die Einbehaltung Manilas und des Rests der Insel Luzon, die anderen Inseln sollten spanisch bleiben. Senator Lodge schlug (zwei Monate nach Deweys Sieg) vor, sich zunächst aller Inseln zu bemächtigen, dann aber nur Luzon zu behalten und den Rest mit England gegen die Bahamas, Jamaika und Dänisch-Westindien zu tauschen. Sogar die Mehrzahl der Delegierten, die die USA auf der Friedenskonferenz in Paris vertraten – sie endete am 10. Dezember 1898 mit dem Erwerb der Philippinen von Spanien für 20 Millionen Dollar -, war aus moralisch-konservativen Bedenken gegen die Annexion, während Vertreter des entschiedenen neuen Imperialismus sich dafür stark machten, dass Amerika sich nicht nur die Philippinen, sondern auch Kuba einverleiben müsse. Die nachfolgenden Ereignisse sollten beispielsweise dem aus dem US-Bundeststaat Indiana stammenden Senator Beveridge die Partitur für einen offensiven Interventionismus liefern, als er mit Verweis auf den zu erschließenden „riesigen chinesischen Markt” vor der Haustüre der Philippinen in flammenden Appellen für ein dauerhaftes Hissen der Stars & Stripes in Fernost plädierte.

 

In der Manila-Bucht hatte sich derweil die Lage zugespitzt. Am 12. Juni 1898 hatten Aguinaldo und seine Gefolgsleute in Kawit, in der nur wenige Kilometer südlich der Hauptstadt Manila gelegenen Provinz Cavite, die Unabhängigkeit ausgerufen und den Kampf gegen die letzten versprengten Reste des einst so glorreichen spanischen Empires intensiviert. Als am 30. Juni erste Bodentruppen der USA von Bord gingen, betraten sie ein unabhängiges Land, das Terrain der ersten Republik in Asien. Anfang August kontrollierten die Revolutionäre die Situation und drängten auf die Eroberung Manilas – der letzten Zitadelle der Macht.

 

Der August 1898 sollte ein in vielfacher Hinsicht entscheidender Monat werden. Die Filipinos hatten die Unabhängigkeit erkämpft und die Hauptlast der Zermürbung der spanischen Soldateska getragen, um sich fortan, zumindest was den kooptationsbereiten Flügel der eigenen Führungsschicht betraf, in jenes Schicksal zu fügen, das der große transpazifische Uncle Sam ihnen zugedacht hatte. Denn als während des Spanisch-Amerikanischen Krieges entsprechend der beschönigenden Redewendung „Kontakt” mit den Philippinen hergestellt worden war, hatte das fin-de-siècle in den USA zwei antithetische Tendenzen befördert, die als Antipode Isolationismus-Interventionismus oder – literarisch gewendet – als Widerstreit zwischen dem großen Demokraten Walt Whitman und dem glühenden Imperialisten Rudyard Kipling rezipiert wurden. Es obsiegte eine Konstellation, in der sich die Rhetorik von Pflicht und Bestimmung (duty and destiny), frühe Realpolitik und calvinistisches Sendungsbewusstsein miteinander verknüpften. Gemäß dem Entwurf des damaligen Präsidenten William McKinley: „Die Pflicht definiert die Bestimmung”, d.h. den moralischen Imperativ, der durch die expansionistische Geschichte der USA sanktioniert wurde. Und dieses „nationale und ‚rassische’ Erbe” wurde seinerseits gerechtfertigt durch die Anrufung der geschichtlichen Notwendigkeit oder Gottes.

Bezeichnend für diese Verschränkung von apokalyptischer Vision und missionarischer Kapitalakkumulation war McKinleys Ansprache an eine Gruppe protestantischer Geistlicher im August 1898, in der er u.a. die Filipinos kurz und bündig für unfähig erklärte, sich selbst zu regieren.

 

Das Streben nach einem Kolonialreich, nach Zähmung einer Untertanen-Rasse diente als archimedischer Punkt in McKinleys Anspruch auf charismatische Berufung, die er selbst bevorzugt als „wohlwollende Assimilierung” (benevolent assimilation) verstanden wissen wollte. Welche Wirrnisse und Zufälle die nachfolgenden Verhandlungen der USA mit General Emilio Aguinaldo, dem damaligen Präsidenten der bedrängten Republik, auch umrankt haben mögen, die Politik der Vereinigten Staaten erforderte Gewalt zur Ausschaltung der philippinischen Revolutionäre und der Guerilla, die den Widerstand – alsbald ohne den kooperationswilligen Aguinaldo – bis weit über die Jahrhundertwende fortsetzten. Dabei wurde im gleichen Atemzug immerfort die Unabhängigkeit nach einer Periode notwendiger Vormundschaft versprochen. Und was bedeutete diese Vormundschaft anderes als den Imperativ kultureller Homogenisierung und politischer Disziplinierung des kolonialen Objekts? Das Ziel bestand demnach in der Etablierung unternehmerischer Rationalität – der Nachfrage nach effizienten, über funktionale Lesefähigkeit verfügenden Arbeitern, wie sie zur Mehrwertproduktion und für die Reproduktion von Abhängigkeitsverhältnissen benötigt wurden – in einer Dritte-Welt-Formation mit wesentlich tributären, auf Verwandtschaft und/oder klientelistische Bande gegründeten kulturellen Praktiken. Das Resultat während der gesamten Periode direkter und indirekter US-Herrschaft bis 1946 war die Festigung einer Oligarchie, deren in (ritualisierten) Wahlen bestätigte Dominanz über die Massen in Latifundien und Grundrente verankert blieb. Verschärft wurde dies durch die Selbst-Verewigung einer Kolonialbürokratie, deren Funktionäre von Bildungseinrichtungen kamen, die eben zur Erfüllung des oben genannten Imperativs eingerichtet worden waren.

 

… im Schatten der Pax americana

In diesem Zusammenhang war das Aufzwingen des amerikanischen Englisch als der Amtssprache für Unterricht, Geschäft und Verwaltung Teil einer komplexen Maschinerie der Befriedung und Hegemonie. Der einst an der University of Chicago promovierte Anthropologe und spätere US-Staatssekretär für Erziehung (1903-09), David P. Barrows, bestimmte den Wert des Englischen so: „Die Kenntnis des Englischen (…) wird materiell zur Emanzipation der abhängigen Klassen beitragen (…), die notwendig ist für die Aufrechterhaltung einer liberalen Regierung”. Hinter der Fassade eines auf Leistung beruhenden öffentlichen Verwaltungssystem brachte ein halbes Jahrhundert Englisch-Unterricht die Fortdauer der Knechtschaft auf dem Lande, die Auflösung des nationalistischen Konsens zwischen dem Volk und der Intelligenz (wenigstens vorübergehend während der Revolution von 1896 und dem Philippinisch-Amerikanischen Krieg, 1899-1902, realisiert), die Entfremdung zwischen den Intellektuellen, die sich des Englischen bedienten, und den Arbeitern und Bauern, die die Volkssprache sprachen.

 

Als das US-Transportschiff Thomas als erstes von vielen im Juli 1901 von San Francisco aus mit seiner Fracht von 600 Lehrern, den Vorläufern des Peace Corps, der USAID-Experten u.ä. gen Philippinen in See stach, demonstrierte es den Vorrang von Institutionen zur Wissensproduktion und zur Zirkulation von Informationen als Motor für den Aufbau des Kolonialstaates. Ferner bedienten sich die ideologischen und kulturellen Apparate beim vorrangigen Aufbau des Staates zwecks Brechung des Guerilla-Widerstandes und der Bauernrevolten in den ersten beiden Jahrzehnten und bei Ausbildung bürokratischer Funktionäre zur Erleichterung des Exports von Zucker, Hanf, Tabak und Mineralien des Reservoirs sozialdarwinistischer Themen. Wer sich seitens der Filipinos der seichten Variante der „benevolent assimilation” durch Erziehung und Ausbildung entzog und statt dessen hartnäckig auf die Selbstgestaltung der Geschichte pochte, wurde unnachgiebig in die Schranken gewiesen. Alles, was auf Eigenständigkeit hindeutete, wurde kurzerhand verboten oder mit brachialer Gewalt erstickt. Der berühmt-berüchtigte Befehl des auf der östlichen Insel Samar wütenden US-Offiziers „Jake” Smith – „Soldaten, niederbrennen, plündern und morden sollt ihr! Je mehr ihr das tut, umso größer wird mein Wohlgefallen sein!” – war das Fanal, sein gesamtes Operationsgebiet erklärtermaßen „in eine heulende Wildnis zu verwandeln”. Vor allem die Moros, die im Süden des Landes beheimatete muslimische Bevölkerung, sahen die Metamorphosen der Macht im fernen Manila, die Ränke um Überwindung alter und Installierung neuer Abhängigkeiten aus gänzlich anderem Blickwinkel. Sie hatten Jahrhunderte in eigenständigen Sultanaten gelebt, vielfältige Bande zum heutigen Malaysia, Brunei und Indonesien unterhalten, und waren weder von den Spaniern noch von einer anderen fremden Macht in die Knie gezwungen worden. Das sollte erst der US-amerikanischen Soldateska mit Hilfe ihrer ortskundigen philippinischen Scouts, der bereits 1901 zur infanteriemäßig ausgerüsteten, paramilitärischen Constabulary, glücken – allerdings nach über 15-jähriger grausamer Kriegführung.

 

Die damals etwa 6,5 Millionen zählende Bevölkerung auf dem Archipel ist in einem bis dahin beispiellosen Kolonialmassaker buchstäblich dezimiert und „hamletting”, die Errichtung sogenannter strategischer Wehrdörfer zur lückenlosen Kontrolle der Aufständischen, in großem Stil praktiziert worden. Das Doppelgeschäft der Sicherung imperialer und feudaler Herrschaft gegen nationalen und sozialen Aufruhr ist ein ebenso auffälliges wie leidiges Kontinuum in der Geschichte des philippinischen Militärs, das dem einstigen Eliteoffizier und ausgerechnet während der Centennial-Feierlichkeiten amtierenden Präsidenten, Fidel V. Ramos, wohlbekannt war. Denn den Scouts und der Constabulary folgte mit der Erlangung des halbautonomen Commonwealth-Status der Philippinen (1935) und nach der Unterzeichnung des Nationalen Verteidigungspakts durch Präsident Manuel Quezon der Aufbau eigener Streitkräfte, der Armed Forces of the Philippines, unter der Ägide des Oberkommandierenden US-General Douglas MacArthur. Sinnigerweise blieb deren Rolle darauf beschränkt, bis zum Eintreffen amerikanischer Truppenverstärkung hinhaltend Widerstand zu leisten. Selbst seit der schließlich am 4. Juli 1946 gewährten Unabhängigkeit der Republik der Philippinen regelte ein Bündel von bilateralen Abkommen, Verträgen und Bestimmungen mit den USA den (postkolonialen) Sonderstatus der Inseln im Kalkül der amerikanischen Militärstrategie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

 

Dr. Rainer Werning ist Politikwissenschaftler und Publizist mit dem Schwerpunkt Südost- und Ostasien; u.a. Ko-Herausgeber (gemeinsam mit Niklas Reese) des soeben in 3. Auflage erschienenen „Handbuch Philippinen – Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur“, Unkel/Bad Honnef: Horlemann Verlag.

 

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