Junge Welt – Rainer Werning – 30 Jahre nach dem Marcos Sturz – Telegener Machtwechsel (in Manila)

Junge Welt-Rainer Werning-2016-02-22_EDSA

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Philippinen: Vor 30 Jahren – vom 22. bis zum 25. Februar 1986 – dominierte „People Power“ das Stadtbild der Metropole Manila und besiegelte unter weltweiter Anteilnahme das Ende der Marcos-Diktatur. Mit Hilfe des Militärs und unter US-Ägide garantierte die neue Präsidentin Corazon C. Aquino eine Rückkehr zur Eliten-Demokratie – gegen das Volk.

Von Rainer Werning

Vorbemerkung: Als jemand, der den Inselstaat das erste Mal 1970 intensiv bereiste, und miterlebte, wie unter dem von Präsident Ferdinand E. Marcos im September 1972 landesweit verhängten Kriegsrecht kritische Geister zum Schweigen gebracht oder Aktivisten, Freunde und Genossen über Nacht spurlos verschwanden oder „salvaged“ (*) wurden, bleibt vor allem die Zeit vom 21. August 1983 bis zum 25. Februar 1986 unvergesslich.

Im August 1983 wurde Marcos’ schärfster politischer Rvale, der Oppositionspolitiker Benigno S. Aquino (Ehemann der späteren Präsidentin und Vater des noch bis Ende Juni amtierenden Präsidenten), nach seiner Rückkehr aus zeitweiligem Asyl in den USA auf dem Rollfeld des Flughafens von Manila erschossen. Seitdem verging kaum ein Tag, an dem sich nicht irgendwo in- wie außerhalb der Hauptsadt Protest regte. Diesem schlossen sich zunehmend auch Mitglieder der Oberschichten an. Bis diese als „Parlament der Straße“ in die Landesgeschichte eingegangene breite antidiktatorische Protestbewegung schließlich am 22. Februar 1986 zum „letzten Gefecht“ blies. Drei Tage später, am Abend des 25. Februar, hatte sie ihr Ziel erreicht. Die überschwenglich als Demokratie-Ikone und Hoffnungsträgerin gefeierte Witwe des einstigen Marcos-Herausforderers, Corazon C. Aquino – liebevoll und allerorten kurz „Cory“ genannt – war nunmehr die neue Chefin im Präsidentenpalast Malacañang.

In jenen Tagen glich Manila einer gigantischen Bühne eines noch gigantischeren politischen Open Air Festivals. Mehr noch: Als römisch-katholische Bastion in Südostasien, wo tiefe Religiosität vielfach mit hoch dosiertem Aberglauben ein wundersames Amalgam bildet, sahen sich zahlreiche himmlisch fühlende Festivalbesucher so sehr von Rosenkränzen, Wundern und der Jungfrau Maria umgeben, dass Letzterer zu Ehren auch im Jahre 1989 ein Schrein nebst überdimensionaler Statue eingeweiht wurde. So versteht es sich von selbst, dass auch die Tage des Marcos-Sturzes im Lande selbst alternierend als „Rosenkranz-“, „Wunder-“ und/oder „People Power-Revolution“ in die Annalen eingingen. Und: Es war dies in der Endphase des Kalten Krieges und aufgrund der Präsenz von weit über tausend eingejetteten internationalen Medienberichterstattern auch der erste telegen ausgeleuchtete Machtwechsel in einem Land der sogenannten Dritten Welt.

Vorgezogene Wahl – Revolte im Militär
Auslöser für die politisch turbulenten Ereignisse vom 22. bis 25. Februar war die vorgezogene Präsidentschaftswahl (snap election) am 7. Februar, zu der Washington Ferdinand E. Marcos, seinen längjährigen Gewährsmann und Vasallen in Südostasien, gedrängt hatte. Es ging darum, Marcos’ ramponiertes Image seit dem Aquino-Mord aufzupolieren und dem Land gleichzeitig einen Ausweg aus seiner damals tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise zu bahnen. Marcos selbst hatte keinerlei Veranlassung gesehen, seine Herrschaft durch einen neuerlichen Urnengang legitimieren zu lassen. Doch dem Druck seines großen transpazifischen Herrn vermochte sich auch der selbstherrliche Despot in Manila nicht zu entziehen. So hatte er Ende November 1985 in Interviews mit US-Fernsehsendern den 7. Februar 1986 als Termin für die in Washington gewünschte „snap election“ angekündigt.

Dermaßen aufgewühlt und polarisiert war die Stimmung, dass das Ergebnis dieser Wahl für die schwindende Schar der Marcos-Befürworter ebenso klar war wie für das Lager seiner Gegner. Berichte über massive Wahlfälschungen und Schiebungen überschlugen sich. Was dazu führte, dass sich sowohl Marcos als auch seine Kontrahentin, die von der gemäßigten Opposition erst spät nominierte „Cory“ Aquino, jeweils als Wahlsieger wähnten. Das Endergebnis der Wahl spielte letztlich keine Rolle mehr, als sich just am 22. Februar mit Verteidigungsminister Juan Ponce Enrile und dem damaligen stellvertretenden Generalstabschef, Generalleutnant Fidel V. Ramos, zwei vormals engste Vertraute des Präsidenten von eben diesem abwandten und sich in den jeweiligen Hauptquartieren von Polizei und regulären Streitkräften verschanzten. Waren sie über Nacht zu Rebellen mutiert, gar zu Feinden der Diktatur? Lange bevor das Wort „Wendehals“ kreiert wurde, waren es eben Enrile und Ramos, die als dessen prototypische Verkörperungen Geschichte schreiben sollten.

Enrile, publicityträchtig in Kampfuniform auftretend, seine Finger am Abzug einer UZI-Maschinenpistole, war mit Marcos seit dessen erstem Wahlsieg 1965 durch dick und dünn gegangen. Bevor er Verteidigungsminister wurde, hatte er andere hohe Regierungsposten inne und galt für Marcos als Korsettstange seines Regimes. Als dessen Kumpan, von 1972 bis 1981 (**) gar oberster Kriegsrechtsverwalter, hatte er, sich vom Adoptivkind zum Juristen zielstrebig nach oben arbeitend, Abermillionen aus einem von der Kokosnussindustrie und Holzeinschlag zusammengezimmerten Wirschaftsimperium gescheffelt. Ramos, der sich gern in Machomanier mit Zigarrenstummel im Mundwinkel präsentierte, Absolvent der US-Militärakademie in West Point, Korea- und Vietnamkriegsveteran sowie passionierter Fallschirmspringer, stand mit der Constabulary/Integrierten Nationalpolizei, der Vorläuferin der heutigen Philippine National Police, einer Truppe vor, die wegen ihrer Menschenrechtsverletzungen wiederholt national wie international scharf kritisiert worden war.

Höhere Weihen, liturgischer Protest
Der gleichermaßen in weltlichen wie religiös überwölbten Machtkuppeln heimische Erzbischof von Manila, Jaime Kardinal Sin, präsentierte sich als ein weiterer gewichtiger Protagonist jener Zeit. Als oberster Hirte des vorwiegend römisch-katholischen Landes wähnte er zwischen dem 22. und 25. Februar Göttliches am Werk. Unsichtbar, doch omnipräsent sei die Gottesmutter auf Manilas ausladender Statdautobahn, der Epifanio de los Santos Avenue (EDSA), zwischen die Kontrahenten – hier die Soldaten, dort das aufbegehrende Volk – getreten. Nonnen und Priester, vereint im Gebet, behängten die aufgepflanzten Bajonette einer hypnotisierten, plötzlich domestizierbereiten Staatsmacht mit Rosenkränzen und Blumen. Ein solch unerwarterer Gruß wurde – ungläubig zwar, dann verhalten – mit eben dem Siegeszeichen der Opposition erwidert: den zum „L“ ( für „Laban“, Kampf) gespreizten Daumen und Zeigefinder.

Über den katholischen Rundfunksender Radio Veritas, der mit Geldmitteln aus den USA, seitens des Opus Dei und von bundesdeutscher Seite durch die CSU-nahe Hanns-Seidel-Stiftung gesegnet war, rief der medial gewandte Kardinal zu einem Massenspaziergang der besonderen Art auf. Treffpunkt: die sich entlang der EDSA vis-à-vis gegenüberliegenden Hauptquartiere der Nationalpolizei und der Streitkräfte, Camp Crame und Camp Aguinaldo. Jene Orte also, wo sich Ramos und Enrile mit einer stündlich angewachsenen Schar von Meuterern und Gefolgsleuten verbarrikadiert hatten und dort mit einem Angriff der nach wie vor loyal zu Marcos stehenden Generalität rechneten.

Doch ein solcher Angriffsbefehl aus dem Präsidentenpalast blieb aus. Zu groß war mittlerweile die auf und entlang der EDSA versammelte Menschenmenge, dass ein gewaltsames, gar offen militärisches Eingreifen ein Massaker ungeheuerlichen Ausmaßes bedeutet hätte. Welch’ ein Umschwung und Gesinnungswandel! Da wurden die staatlichen Ordnungshüter jahrelang im Volksmund unter vorgehaltener Hand als buwaya (Krokodile) bezeichnet, zu denen man tunlichst Distanz wahrte. Und nun suchte das Volk eben die Nähe zu Soldaten, ja beschenkte sie nebst Blumen und Rosenkränzen mit Speis’ und Trank, die noch Stunden zuvor als hartgesottene Vertreter einer vermaledeiten Staatsmacht gegolten hatten. Camp Crame und Camp Aguinaldo, einst Schaltzentralen flächendeckenden Staatsterrors, glichen nunmehr einem Heerlager der Friedfertigkeit. In einer solchen Situation wollten die über Nacht zu Rebellen mutierten Soldaten nicht schießen. Und die zerbröckelnde Phalanx der Marcos-Getreuen konnte nicht (mehr) schießen.

People Power
Die unbekannte, unberechenbare Größe blieb das Volk. Dazu zählten die Bauern, die schlechter behandelt wurden als ihre Wasserbüffel; die Arbeiter, die man mit Hungerlöhnen, unbezahlten Überstunden und Streikverboten malträtierte hatte; die Fischer, wegsaniert von den Städteplanern einer von Grandezza und Pomp besessenen First Lady Imelda (genau die mit der imposanten Schuhkollektion); die Straßenhändler mit ihren feilgebotenen Hustenbonbons, Kaugummis, schmächtig-zähen Hühnchenflügelspießen und wohlriechenden Sampaguita-Kränzen; die Mittelschichten, Studenten, Krankenschwestern, gespalten und mit sich hadernd, ob sie daheim oder im gelobten Westen ihr Glück, ihre Entwicklung und Erfüllung suchen sollten; schließlich die auf Exklusivität bedachte Großgrundbesitzerklasse und in Extravaganzen schwelgende Bourgeoisie, umgeben von einem Tross kühler Technokraten und sprachgewaltiger Souffleure aus Wissenschaft, Kunst und Kirche.

Sie alle, die normalhin vieles trennt, fanden auf der EDSA zueinander, kurz nur, aber empathisch, um alsbald wieder in ihre Welt der „gated communities“ oder „shanties“ einzutauchen. Was blieb, musikalisch allseits beschworen, war ein Lied, das im Frühjahr 1986 zur Hyperhymne wurde – neben dem antikolonialen Ang Bayan Ko (Mein geliebtes Heimatland) und dem 1972 komponierten US-amerikanischen Popsong Tie a yellow ribbon ’round the old oak tree (Umkränze die alte Eiche mit einer gelben Schleife). Es hieß: Handog ng Pilipino sa Mundo (Das Geschenk des Filipino an die Welt) und sein Komponist Jim Paredes. „Seht“, so lautet eine Strophe dieses Liedes, „was in unserem Land geschieht! Reiche und Arme tun sich zusammen – Nonnen, Priester und Soldaten vollzieh’n den langersehnten Schulterschluss, und dieser Teil der Erde verwandelt sich in einen Himmel.“ Und der Refrain: „Ein Geschenk des Filipino an die Welt – ein gewaltloser Weg zur Veränderung, Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit – sie sind zu erlangen ohne Gewalt, solange wir vereint sind.“

Gelb, Gelb über alles
Farbsymbole – auch sie kamen massenhaft zur Geltung. Neben dem „unbefleckten“ Weiß, dem Grün des alten Politfuches und „Corys“ Vize, Salvador „Doy“ Laurel, dessen einflussreicher Familie Marcos seine politische Karriere verdankt hatte, dem verhaltenen Rot der Linken und Teilen des Parlaments der Straße – das alles überdeckende Gelb, „Corys“ Lieblingsfarbe in Anlehnung an ihren Lieblingssong Tie a yellow ribbon … Gelbe Fahnen, gelbes Konfetti, gelbe T-Shirts, unbeschriftete, mehr noch mit einprägsamen Parolen beschriftete: „Ich stoppte einen Panzer! – „Ich war Teil einer Menschenbarrikade!“ – „People Power“ etc. Ebenso rasch kursierten „Revolutionsalben“ – in bibliophiler Ausgabe für jene, die dafür locker einen halben Durchschnittsmonatslohn hinblättern konnten, und in erschwinglicher, weniger schmuckvollen Heftform. Im Mittelteil, herausnehmbar, war ein auf Pergamentpapier gedrucktes, durchnumeriertes Zertifikat eingelegt. Es bescheinigte dem Besitzer die Teilnahme an der „Wunderrevolution vom 22. bis zum 25. Februar 2016“ und harrte nur noch der notariellen Beglaubigung.

People Power – das Volk als Machtfaktor oder Machtfaktor Volk – war der Schlüsselbegriff und präzisierte hernach in Verbindung mit den Beiworten „Wunder“, „Rosenkranz“ und „gewaltlos“ den Charakter der „Revolution“. Geprägt wurde er von Aquinos engsten Beratern – Jesuiten der exklusiven Ateneo de Manila University. Machtfaktor Volk – wer wollte dem widersprechen? Idealtypisch fing es die Stimmung einer Fiesta ein, die das Land bis dato nicht erlebt hatte und es wahrscheinlich auch nicht mehr erleben wird! Furioses Finale dieser famosesten aller Fiestas Filipiniana waren die dröhnenden Rotorenblätter von US-Militärhubschraubern, die die Marcoses im Schutz der Dunkelheit aus dem Präsidentenpalast in die nördlich von Manila gelegene US-Luftwaffenbasis Clark Air Field ausflogen. Nicht die Heimatprovinz des Präsidenten, nach Paoay in Ilocos Norte, sondern ins Exil auf Hawaii war das Endziel eines langen Transports.

Dabei hatte sich Marcos noch am Morgen desselben Tages (25. Februar) auf dem Balkon seines Malacañang-Palastes am trüben Pasig-Fluss von Claqueuren als Wahlsieger feiern lassen. Doch der langjährige Magier der Macht, einst bewundert, jetzt geschmäht, hatte ausgespielt. Sein Gesicht – aschfahl und aufgedunsen durch Cortison-Schübe – wirkte schlapp, als starrte es, bereits in einer verstaubten Ecke von Madame Tussauds in Wachs modelliert, auf deren ausdrucksstärkere Kabinettsfiguren. „Machen Sie Schluss, einen sauberen Abgang“, hatte ihm Augenblicke zuvor US-Präsident Ronald Reagans Sonderemissär, Senator Paul Laxalt, telefonisch beschieden. Der Mohr hatte seine Pflicht und Schuldigkeit getan, nun konnte – nein: musste – er von der Bühne abtreten.

Gleichzeitig reklamierte „Cory“ ihren Sieg, umringt von erneut herbeigeströmten Volksmassen, als gelte es, sich selbst und die Auferstehung der Demokratie zu zelebrieren. „Cory“ verkörperte in jenen Momenten das im insularen Katholizismus so überaus dominante mariologische Element – ein ferner Abglanz einer prä-kolonialen Ära, da die spanischen Konquistadoren noch nicht vollumfänglich und landesweit ihre Machoherrschaft zementiert hatten.

Rot unter anderem
Und die radikale Linke in Gestalt der 1968 auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus-Maotsetung-Ideen neukonstituierten Kommunistischen Partei (CPP) mit ihrer drei Monate später gegründeten Guerilla der Neuen Volksarmee (NPA)? Sie hatte sich nach Marcos’ Verkündung des Kriegsrechts im Frühjahr 1973 als Teil des im Untergrund operierenden Oppositionsbündnisses der Nationalen Demokratischen Front (NDF) formiert und propagierte quasi als eigene säkulare „Dreifaltigkeitslehre“ einen antiimperialistischen, antifeudalistischen und (ihrer Meinung nach) antifaschistischen beziehungsweise antidiktatorischen Kampf. Mit dem Ziel, durch einen langwierigen Volkskrieg vom Hinterland aus schrittweise die Städte zu erobern und eine volksdemokratische Herrschaft zu errichten – ein Kurs, wie Mao Tse-tung ihn einst in China verfolgt hatte.

Bis Mitte der 1980er Jahre war die NDF mit ihren etwa ein Dutzend Mitgliedsorganisationen zweifellos die ideologisch, politisch und organisatorisch hegemoniale Kraft im Kampf gegen das verhasste Marcos-Regime. Es waren NDF-Mitglieder, die von Anfang an und am erbittertsten Widerstand gegen die Diktatur leisteten und dafür gleichzeitig den höchsten Blutzoll entrichteten. Doch vor allem die CPP-NPA unterschätzte fatal die besondere Dynamik des antidiktatorischen Kampfes nach dem Aquino-Mord. Unorganisierte Linke oder Linke in anderen politischen Gruppierungen galten insgeheim als suspekt, wenn sie sich „nur“ dem demokratischem Kampf verpflichtet fühlten und nicht auch auf einen antiimperialistisch-antifeudalen Kurs einzuschwören waren.

Was schließlich dazu führte, dass die CPP die vorgezogene Wahl am 7. Februar 1986 als „Getöse“ abtat, Marcos noch in dieser Phase maßlos überschätzte und seinen Sieg für ausgemacht hielt. Entsprechend rief das Politbüro (Politische Büro) des Zentralkomitees der Partei in einem Mehrheitsvotum zum Wahlboykott auf und überließ so Linken jenseits der NDF und dem schillernden Parlament der Straße ungleich größere politisch-organisatorische Handlungsspielräume. Mit der Konsequenz, dass sich wenig später zig Genossen von der Partei abwandten, desillusioniert in innerem Exil Wunden leckten oder sich exklusiv dem parlamentarischen Kampf verschrieben.

Dabei war die NDF seit Mitte der 1970er Jahre eine formidable Kraft, die nach eigenem Bekunden am Vorabend des Marcos-Sturzes über eine Million Mitglieder und eine Massenbasis von etwa zehn Millionen Menschen zählte. NPA-Verbände operierten in 62 der damals insgesamt 73 Provinzen – mancherorts bereits in Bataillonsstärke. Neurekrutierungen hatten ein Ausmaß angenommen, daß die NPA mit annähernd 30.000 Kombattanten von US-Militärexperten als seinerzeit „weltweit am schnellsten wachsende Guerilla“ klassifiziert wurde.

Gewieftes US-Krisenmanagement
Durch solche Ereignisse alarmiert, bereiste seit Herbst 1983 – mit
Ausnahme von US-Präsident Ronald Reagan – alles, was in Washington Rang und Namen hatte (einschließlich CIA-Chef William Casey), die philippinische Metropole, um vor Ort das Ausmaß der „Subversion“ zu studieren. Eine umfassende Lageeinschätzung legte das State Department im November 1984 vor, welche Reagan als Grundlage für seine im Januar 1985 unterschriebene Nationale Sicherheitsdirektive diente. Diese beinhaltete ein Bündel von 16 „hohe Priorität genießenden Veränderungen“, um die Gefahr zu bannen, daß eine Radikalisierung in den Philippinen „die gesamte Region destabilisiert“. So wurde von Marcos u.a. eine weniger rigide Amtsführung, die Abschaffung des präsidialen Vorbeugehaft-Gesetzes sowie das Aufbrechen der ihn stützenden Klientelwirtschaft aus dem Zucker- und Koprasektor erwartet. Hatte Washington im Falle Nikaraguas, Irans und anderer ehemaliger Vasallenstaaten deren Despoten bis zum bitteren Ende die Stange gehalten, hieß es in diesem Dokument nunmehr sibyllinisch: „Präsident Marcos ist Teil des Problems, aber auch ein Teil dessen Lösung.“

Im Klartext: Marcos war demnach nur noch taktisch haltbar. Von
strategischem Interesse – im Sinne einer „geordneten Nachfolgeregelung“
– war indes eine Allianz aus Generälen vom Schlage eines Ramos mit Politikern aus dem gemäßigten bürgerlichen Spektrum à la Laurel und eben „Cory“ Aquino. Just dieses Kalkül Washingtons ging auf.

Fatale „Corygraphie“
„Cory“ löste zwar rasch ihr Wahlversprechen ein, die politischen Gefangenen
des Marcos-Regimes freizulassen. Das hinderte sie aber nicht daran,
gleichzeitig allen denjenigen Immunität zuzusichern, die sich Menschenrechtsverletzungen hatten zu Schulden kommen lassen. Das sollte sich während ihrer Regentschaft rächen: Sieben Putschversuche konnten nur
dank des entschiedenen Einsatzes des Generalstabschefs und späteren
Verteidigungsministers Fidel V. Ramos abgewehrt werden. Überhaupt: Es war Ramos, der die eigentlichen Strippen zog und letztlich „Cory“ regierte. Anstatt ihr geneigten Organisationen mehr politische Partizipationsmöglichkeiten zu eröffnen, steuerte das zunehmend mit Hardlinern und Militaristen durchsetzte präsidiale Kabinett einen Kurs, der die Belange des Volkes gänzlich aus den Augen verlor.

Die kritische Zusammenarbeit, die zahlreiche fortschrittlichen Kräfte und Personen der Präsidentin angeboten hatten, wies Aquino zurück und setzte statt dessen voll auf die US-inspirierte Doktrin des „low-intensity conflict“ (Konflikt niedriger Intensität) und das „total war“-Konzept (absoluter Krieg) gegen alles (vermeintlich) Linke. Selbst blutrünstigen Bürgerwehren, die sich damit brüsteten, die abgeschlagenen Köpfe von „Kommunisten“ als „Trophäen“ öffentlich zur Schau zu stellen, bezeichnete die Präsidentin als „Verkörperung von People Power“. Damit erledigte sie nicht nur das Geschäft der rechten, konservativen und reaktionären Kräfte, sondern sorgte auch dafür, dass die vor Marcos existente Elastizität philippinischer Eliten-Demokratie wiederhergestellt wurde. Beispiel Enrile: Er blieb unter Aquino Chef des Verteidigungsministeriums, wenngleich er später auf Distanz zur Präsidentin ging und sie gern weggeputscht gesehen hätte. Dann machte er als steinreicher Geschäftsmann weiter von sich reden, wurde Mitglied des Senats, um später ins Repräsentantenhaus zu wechseln und erneut in den Senat einzuziehen, wo der jetzt 92-Jährige zeitweilig als dessen Präsident fungierte.

Vorhang zu
Das gleichzeitige Ineinanderfließen all dieser Faktoren – die plötzliche Abkehr eines wichtigen Segments der staatlichen Sicherheitskräfte von Marcos, ein seitens Washington neu erprobtes, überaus erfolgreiches US-Krisenmanagement, eine gleichermaßen vom mächtigen Klerus und der machtvoll in Erscheinung getretenen metropolitanen Bevölkerung euphorisch unterstützte Lichtgestalt „Cory“ Aquino sowie die mediale Projektion eines alten Despoten als abgehalfterter Finsterling – formte den brisanten Stoff, aus dem „People Power“ gewebt wurde. Wenngleich jene aufwühlenden Tage Ende Februar 1986 vieles bedeuteten und größte Hoffnungen schürten, so obsiegte letztlich ein telegener Machtwechsel unter Ausschluss von „People’s Power“ (Volksmacht) und Vermeidung eben einer Revolution.

Mit den US-Luftangriffen auf die libyschen Küstenstädte Tripolis und Bengasi unter dem Codenamen „Operation El Dorado Canyon“ am 15. April 1986 als Vergeltung auf einen mutmaßlich von Libyen gesteuerten Anschlag gegen die Berliner Diskothek La Belle wenige Tage zuvor sowie mit der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl zwei Wochen später fand die exaltierte Berichterstattung über den Machtwechsel im fernen Manila ein jähes Ende. Seitdem erheischen die Philippinen lediglich internationale Aufmerksamkeit im Falle von Naturkatastrophen wie Taifunen, Vulkanausbrüchen oder Überschwemmungen. Oder es befinden sich mal wieder im äußersten Süden Geiseln in der „Obhut“ der als terroristisch eingestuften Abu Sayyaf – aber das auch nur, solange es sich dabei zumindest um „westliche“ Geiseln handelt.

(*) „Salvaging“ meint eigentlich die Rettung/Bergung von in (See-)Not Geratenen. Während der Marcos-Diktatur diente „salvaging“ als beschönigender Begriff für massenhaft und systematisch begangene Menschenrechtsverletzungen.
(**) Da im Februar 1981 ein Besuch von Papst Johannes Paul II. in Manila anstand, hatte Marcos am 17. Januar 1981 das Kriegsrecht de jure aufgehoben, wenngleich die damit verbundenen präsidialen Machtbefugnisse de facto bis Ende Februar 1986 intakt blieben.

Rainer Werning, promovierter Sozialwissenschaftler und Publizist mit dem Schwerpunkten Südost- und Ostasien,